Winter in Sibirien – ein Bericht der GeoComPass-Mitarbeiterin Julia Kammerer
Nach zwei Monaten in der Zwölf-Millionen-Metropole Moskau verschlug es mich für einige Tage in die unendliche Weite Sibiriens. Bei Ankunft in Irkutsk bemerkte ich vor allem eines sofort: den penetranten Benzingeruch in der eiskalten Luft. Dieser Geruch sollte uns die gesamte Woche begleiten, da in Sibirien von Ende Oktober bis Frühlingsbeginn fast alle Automotoren durchlaufen. Grund hierfür sind die extremen Minustemperaturen, die in dieser Region erreicht werden und die dafür sorgen, dass ausgekühlte Motoren eventuell nicht wieder anspringen.
Irkutsk ist so, wie ich mir Russland immer vorgestellt habe: abgelegen, kalt, ruhig, etwas dreckig, aber trotzdem mit einem gewissen Charme. Besonders aufgefallen sind mir in meiner ersten, klaren sibirischen Nacht die Sterne. Da man in Moskau aufgrund der hohen Lichterverschmutzung keine Sterne sehen kann, ist ein schöner Sternenhimmel etwas erstaunlich Beruhigendes und Wunderschönes. Schaut man sich Irkutsk dann bei Tageslicht an, stechen vor allem die unzähligen traditionellen Holzhäuser ins Auge. Teilweise sind die Häuser schon über 200 Jahre alt und mit Schnitzereien und Verzierungen reich bestückt. Ein Problem haben die Häuser jedoch: Sie wurden früher ohne Betonverankerung gebaut und aufgrund des wasserreichen, Histosol-Bodens versinken sie jährlich mehr und mehr. Auch wenn von außen mitunter nur noch ein Stockwerk zu sehen ist, werden die Kellergeschosse nach wie vor bewohnt… na, im Dunkeln ist gut Munkeln.
Nach zwei Tagen Irkutsk stand als nächstes der Baikalsee auf dem Programm. Wie lange habe ich schon davon geredet, an den Baikalsee zu fahren – nun war es endlich soweit! Nach sechs Stunden Autofahrt durch die verschneite sibirische Einöde erhaschten wir endlich die ersten Blicke auf den legendären Baikalsee sowie auf die Insel Olchon. Der Baikalsee ist bekanntlich der älteste und tiefste Süßwassersee der Erde: Würde man ihn zum Vergleich nach Deutschland verlegen, so würde er sich ungefähr von Stuttgart bis nach Hamburg ziehen. Die Insel Olchon – etwas größer als der Bodensee – ist die größte Insel des Baikalsees. Mit rund 1.200 Einwohnern ist sie die einzige Insel, die touristisch halbwegs erschlossen ist. Wer die Insel besucht, muss sich allerdings auf einen „russischen Expeditionscharakter“ einstellen und dem Luxus für diese Zeit auf Wiedersehen sagen. Denn: An das Stromnetz ist die „Hauptstadt“ Khuzhir zwar seit 2005 angeschlossen, fließendes Wasser sucht man jedoch vergebens. Dementsprechend einfach war auch unsere Unterkunft. Sie hatte meiner Meinung nach aber alles was man zum Leben braucht, ganz im Sinne des Mottos „back to the roots“. Neben unseren Betten und einem großen Kachelofen befanden sich eine einzelne elektronische Herdplatte, ein großer Zehn-Liter-Wasserbehälter sowie ein Spülbecken in der rustikalen Holzhütte. Zum Essen und Teekochen sowie zum Händewaschen und Zähneputzen wurde das Wasser per Hand von A nach B geschöpft; als Abfluss diente ein großer Eimer.
Etwas aufregender war noch der Toilettengang: Die Häuschen dafür befanden sich am anderen Ende des verwinkelten Hofs und waren in unter einer Minute gut zu erreichen – zumindest bei Tageslicht. Im Dunkeln sah die Sache schon wieder anders aus, denn beide Toilettenhäuschen, bestehend aus einem Plumpsklo, verfügten über kein Licht. Es hieß also jedes Mal aufs Neue: warm anziehen, nicht trödeln und aufpassen, dass das Handy, das als Taschenlampe diente, nirgendwo hinunterfällt.
Landschaftlich hat die Insel zum Glück deutlich mehr vorzuweisen! Von Sandstrand, über steppenartige Abschnitte, dicht bewachsene Wälder und steile Küsten hat sie alles zu bieten – alles, abgesehen von befestigten Straßen. Unser Ausflug zum nördlichsten Punkt der Insel, dem Kap Choboi, wurde somit sehr schnell zur Abenteuertour und der wohl verrücktesten Autofahrt meines Lebens. Schon als ich das Expeditionsauto sah, wurde mir klar: Das wird spannend. Der alte Bus aus vergangener Sowjet-Zeit, teilweise zusammengehalten von Panzer-Tape, hatte zwar keine Gurte, dafür aber eine „All around“-Polsterung – und die nicht ohne Grund, wie uns nur wenige Minuten später bewusst wurde. Auch die Musikwahl unseres Fahrers lies darauf schließen, dass wir uns die nächsten Stunden nicht im Jahr 2018 befinden würden (mit der „Best of“-CD von Modern Talking in Dauerschleife fährt es sich doch gleich viel besser!).
Wie ein Känguru hüpft der Bus unter uns über Rillen und Furchen, ackert sich tapfer durch Sanddünen und brettert, für meinen Geschmack etwas zu schnell, über Wurzeln, Steine und Schlaglöcher. Und wir mitten drin – halten uns so gut es geht fest und hoffen, dass die zuvor gegessene, traditionelle Fischsuppe „Ucha“ dort bleibt, wo sie bleiben soll. Nach einem kurzen Stopp reichte uns unser Fahrer einen großen Eimer – nur für den Fall der Fälle, denn er wusste, was nun auf uns zukommen würde. Von einer Straße konnte schon lange nicht mehr die Rede sein. Jetzt hieß es einfach nur noch Augen zu und durch. Ich schickte ein kleines Stoßgebet gen Himmel, dass ich da heil wieder rauskomme und dass unser Fahrer sein Auto unter Kontrolle hat, während wir im 45-Grad-Winkel in mehrere Schlaglöcher einschlagen, der Motor fast den Geist aufgibt und im Bus ein hysterisches Gelächter herrscht. Eine Mischung aus Panik, Nervenkitzel und Freude. Doch wir wurden mit einem sagenhaften Ausblick belohnt: Wasser soweit das Auge reicht, wunderschöne Felsformationen, schneebedeckte Gipfel auf der weit entfernten gegenüberliegenden Uferseite sowie ein Einblick in die Welt der Schamanen. Immer wieder zu sehen sind große Holzpfähle und Bäume, welche mit bunten Tüchern und Bändern zugeknotet sind. Jedes einzelne Band stellt für Gläubige einen Wunsch an die Schamanen-Götter dar – für uns ein einmaliges Fotomotiv und ein kurzer Moment, um inne zu halten und einfach nur den Moment zu genießen.
Die Tage auf der Insel waren von Anfang bis Ende ein durch und durch „authentic Russian Experience“. Ich bin sehr glücklich, diese Erfahrungen gemacht zu haben!
Unser letztes Ziel auf unserer sibirischen Reise war die Stadt Ulan-Ude östlich des Baikalsees. Unweit der mongolischen Grenze befindet sich die Stadt mit der größten buddhistischen Tempelanlage Russlands. Gerade noch am heiligsten Ort der Schamanen am Baikalsee, stehen wir nun hier vor bunten buddhistischen Tempeln, umgeben von betenden Mönchen und der rauen russisch-mongolischen Gebirgslandschaft. Ich könnte mich jetzt auch genauso gut in einem anderen asiatischen Land befinden und würde den Unterschied wahrscheinlich nicht sofort bemerken. Lediglich der frisch gefallene Schnee, die Minusgrade, die russische Sprache, die größte Lenin-Kopf-Statue der Welt und auch der wartende Bus zurück zum Flughafen nach Irkutsk erinnern mich daran, dass ich mich nach wie vor in diesem gigantischen Land befinde, dessen unendliche Weite und Vielseitigkeit unbegreiflich für mich sind.
Nach einer sehr spannenden Woche „Russland pur“ bin ich mir in einem Punkt sicher: Sibirien – ich werde wiederkommen.
Bericht und Bilder von Julia Kammerer